Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Welt als ein System von Nomaden

Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Welt als ein System von Nomaden
Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Welt als ein System von Nomaden
 
Gottfried Wilhelm Leibniz hatte in Leipzig, Jena und Altdorf Philosophie und Rechtswissenschaften studiert; in Diensten des Mainzer Kurfürsten und Erzbischofs Johann Philipp von Schönborn erfüllte er von 1672 an diplomatische Aufgaben in Paris. Zugleich widmete er sich der Mathematik und entwickelte eine rein mechanische Rechenmaschine, die - anders als die »Pascaline« Blaise Pasacals - auch multiplizieren und dividieren konnte. Ihre Erfindung trug ihm die Mitgliedschaft in der berühmten Royal Academy in London ein. Auch fand er ein Verfahren zur Rechnung mit dem Zweier- statt des Zehnersystems. Dafür konstruierte er eine Maschine, bei der er die Zahlen durch Kugeln »binär« darstellte: eine Kugel bedeutet 1, keine Kugel 0. Mit diesem binären Rechensystem wurde er gewissermaßen zu einem der Urahnen des Computers. Die Anregung dazu kam von dem Jesuiten und Chinamissionar Claudio Filippo Grimaldi, den Leibniz in Rom kennen gelernt hatte.
 
Von 1676 stand er in Diensten der Herzöge von Braunschweig, durch die er mit der Aufgabe betraut wurde, eine Geschichte dieser Dynastie zu schreiben, für deren Recherchen er unter anderem nach Österreich und Italien reiste. In Rom wurde ihm die Leitung der Vatikanischen Bibliothek angeboten, doch lehnte er ab, da er nicht bereit war, zum Katholizismus überzutreten. Aber er studierte daraufhin die Möglichkeit einer Versöhnung der Konfessionen. Später war Leibniz Bibliothekar der herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel. Zur Förderung der Wissenschaften, aber auch des Handels und der Technik, gründete er 1700 in Berlin die Akademie der Wissenschaften, unter deren Leitung seit Beginn des 20. Jahrhunderts seine nachgelassenen Briefe und Schriften ediert werden.
 
Das wissenschaftliche Forum von Leibniz, der zeitlebens in vielem Autodidakt blieb, war nicht die Universität, sein Medium nicht das Buch, sondern die gelehrte Zeitschrift und die Korrespondenz. Viele seiner Schriften kursierten ungedruckt. In seinem Lebensstil schlossen sich noch einmal gelehrter Freundeskreis und höfische Diplomatie, akademische Reiselust und regionale Bildungspolitik zusammen. Vor allem aber vereinte er in sich noch einmal fast alle wissenschaftlichen Disziplinen: Philosophie, Mathematik, Alchimie, Physik, Geologie, Geschichte, Politik, Recht oder Philologie, obwohl deren Stoffe in den rund drei Jahrhunderten seit dem Ende des Mittelalters ins Unermessliche gewachsen waren. In der Philosophie versuchte er, allen Geistern gerecht zu werden. Er konnte scharf polemisieren, aber auch an Gegnern das Denkenswerte würdigen. Seine philosophische Hauptschrift, die »Monadologie« (auch sie zu Lebzeiten ungedruckt), fasst in 90 Sätzen auf rund 20 Seiten seine Philosophie zusammen. Nur im Zusammenhang mit seinem weiteren Denken, und das heißt, mit dem oft vereinnehmenden Umgang mit der Philosophie der Zeitgenossen und der Geschichte, offenbart sie Einblicke in sein breites Schaffen. Dementsprechend befremdlich wirkt diese Monadologie auf den ersten Blick.
 
Monaden sind »die wahren Atome der Natur und die Elemente der Dinge«. Leibniz übernahm den Begriff von Giordano Bruno, der aus dem antiken Atomismus eine Theorie der Bausteine des Seienden entwickelt hatte, die zugleich geistig, mathematisch und körperlich die erkennbare Welt ausmachen. Monaden sind also Atome ohne jede Dimension, ohne Quantität und dennoch untereinander verschieden und in sich strukturiert. Es sind »unkörperliche Automaten«: Denkt man sie sich vergrößert, so könnte man in sie wie in eine Mühle eintreten, aber man würde in ihrem Inneren nichts als einzelne Teile finden, die aneinander stoßen, niemals aber etwas, woraus ihre Bewegung zu erklären wäre; sie stehen ausschließlich für die reine einfache Substanz, die das Zusammengesetzte ausmacht. Leibniz' Monaden sind die eigentlichen Träger und Ursachen von Bewegung überhaupt. Von daher haben sie Beziehungen nach außen, zum Beispiel die Fähigkeit, Einwirkungen (»Perzeptionen«) aufzunehmen, durch die sie selbst zwar nicht verändert werden, die andererseits aber jegliche Veränderung erklärbar machen. Wahrnehmungen, das heißt bewusste Aufnahme von Eindrücken, sind nur einer Sonderform von Monaden vorbehalten, nämlich den »Seelen«, denn diese haben ein Gedächtnis und können in verschiedenen Ausprägungen Schlussfolgerungen ziehen.
 
Sofern dadurch Selbsterkenntnis beziehungsweise »reflexive Akte« möglich werden, ist der Geist tätig und leitet auch zur Gotteserkenntnis über. Die Vernunft beruht sowohl auf dem Prinzip des Widerspruchs (»falsch ist, was in sich widersprüchlich ist«) als auch auf dem Prinzip des zureichenden Grundes (»nichts existiert ohne Grund, warum es so und nicht anders ist«). Daraus folgt sofort, dass es für alle Dinge, die auch anders sein könnten, einen letzten Grund in einer notwendigen Substanz geben muss, in der die Veränderungen wie in einer Quelle aufgehoben sind: nämlich Gott. Die göttliche Kunstfertigkeit hat den Körper des Lebewesens als »eine Art von göttlicher Maschine oder natürlichem Automaten« geschaffen. Der Unterschied zur technischen Maschine liegt dann darin, dass - wie bei der zitierten Mühle - diese innen aus Teilen besteht, die nicht an sich maschinell sind, der lebendige Körper dagegen ist bis ins Innerste (Unendliche) hinein immer Maschine, allerdings in einem spezifisch lebendigen Sinne. Alle Monaden sind kleine Vollkommenheiten oder elementare Wirklichkeiten (»Entelechien«). Da Geister zur Gotteserkenntnis fähig sind, folgt daraus, dass sie einen »Gottesstaat« bilden, eine »wahrhaft universale Monarchie, eine moralische Welt innerhalb der natürlichen Welt«. »Gott als Baumeister und Gott als Gesetzgeber« garantiert die Übereinstimmung beider Welten in den Geistern. So endet die Monadologie in einer Moralphilosophie, die auf der Güte und Liebe Gottes gründet.
 
An anderer Stelle hat Leibniz Leibniz davor gewarnt, »das, was sich nur begrifflich erfassen lässt, sinnlich anzuschauen«. So plastisch er das Funktionieren der Monaden schilderte, so bleiben sie doch reine Begriffe, eine Hypothese, wie eine Metaphysik konstruiert sein müsste, um die Verschiedenheit und den Zusammenhang der Dinge einschließlich ihrer Erkennbarkeit darzustellen. Auch im Wirken Gottes sieht er vor allem eine rational bewiesene Hypothese, mit der man allein die Welt als Ganzes erklären kann. Aus dem mechanistischen Atomismus des Descartes, der Materie von denkender Substanz getrennt hatte und die Welt deshalb als Zusammenspiel von Atomen nach Art einer perfekt konstruierten Maschine dachte, hat Leibniz einen organischen Zusammenhang von Monaden gemacht, die einzelne »lebendige, immer währende Spiegel des Universums« sind. Indem er das Funktionieren dieser Maschine Atomen zuschrieb, die nichts als Qualität und Kraft sind, gibt er letztlich die mechanistische Erklärung auf.
 
Mit der Idee der Monade erklärte den Zusammenhang der Welt als einen geistigen und dynamischen. So brachte er Körper und Geist, die Descartes definitiv getrennt hatte, wieder zusammen. Zwar folgt jede Monade ihren eigenen Gesetzen, da aber alle Monaden »Repräsentationen eines und desselben Universums sind«, treffen ihre Tätigkeiten immer passend zusammen. Eine gleichsam eingeborene Kraft, die er »prästabilierte Harmonie« nannte, sorgt für dieses Zusammenspiel, braucht hierfür aber eine notwendige und willentlich ordnende Substanz. Allerdings beschränkt sich solche »Willkür« auf die Organisation des Besten, weil sie ja auf Vollkommenheit aus ist. So ist die wirkliche Welt nach einem berühmten Satz Leibniz' »die beste aller möglichen Welten«, selbst wenn Teile in dieser Welt nicht vom besten sind. Mithilfe der Monaden, die so konzipiert sind, dass jede einzelne mit allen anderen in Beziehung steht, erfüllte Leibniz das Ideal eines »Systems« von Wissenschaft, wie es der Logiker Petrus Ramus aufgestellt hatte, indem er jedem Ding seinen logischen Ort zuwies. Gleichzeitig löste er das Erkenntnisproblem, wie das Universum denn ein Ganzes sein kann, wenn es uns immer nur unvollkommen und endlich erscheint: »Wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, ganz anders und gleichsam in perspektivischer Vielfalt erscheint, so gibt es auch - zufolge der unendlichen Menge der einfachen Substanzen - gleichsam ebenso viele verschiedene Welten, die jedoch nur die Perspektiven einer einzigen unter den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade sind.« Und dieselbe Vielfalt der Perspektiven ermöglicht es, sein System metaphysisch und erkenntnistheoretisch, moralisch und naturphilosophisch, theologisch und hypothetisch, mechanistisch und materialistisch oder animistisch und pantheistisch zu lesen.
 
Die Nachwirkung Leibniz' beruht vor allem auf dem rationalistischen Aspekt seiner Metaphysik. Alle seine Begriffe und Thesen berufen sich auf ein verstandesgemäßes Kalkül nach dem mathematischen Wissenschaftsmuster. Weder einer inneren Erfahrung noch einer Tradition oder Weisheit gestand er Autorität zu. Mathematiker blieb Leibniz auch hier: Die Kombinationen der Monaden dachte er sich nach dem Modell der logischen Kombinatorik, die seit dem späten Mittelalter versuchte, Wahrheiten und wissenschaftliche Aussagen durch »Berechnung« logischer Begriffe herzuleiten. Zugleich baute sein Begriff der einfachen Substanz und der Individuation auf der neueren Schulmetaphysik auf. Daher machte seine Philosophie als Schulphilosophie der Aufklärung (durch die Lehrbücher des Christian Wolff) Karriere. Wenn auch Leibniz' Universalität nicht Schule machen konnte, so bereitete er doch das Ideal einer vernünftigen und nützlichen Wissenschaft vor, in der die Religionen ebenso gedeihen konnten wie die empirischen Forschungen und die spekulativen Denkansätze des 18. Jahrhunderts.
 
Prof. Dr. Paul Richard Blum

Universal-Lexikon. 2012.

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